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    Sonntag, 18. Juni 2023, 16:08

    Die Gammlerbewegung der 60er Jahre - Versuch einer Analyse

    Begegnet sind sie mir nach meiner Erinnerung in meiner rheinischen Kleinstadt, in der ich in den 60er Jahren aufwuchs, überhaupt nicht. Den Begriff "Gammler" hörte ich in diesem Zeitrahmen erstmals aus dem Munde meines alten Herrn, der ihn mutmaßlich aus der zeitgenössischen Boulevardpresse übernommen hatte.
    Wer oder was waren aber nun die sogenannten "Gammler" der 60er Jahre ? Gesellschaftlich benutzt wurde dieser Begriff für jugendliche Abweichler von der sozialen Norm, die sich oft durch längere Haare und eine gewisse "Uniformierung" wie Jeans und Parkas auszeichneten. Die heute als jugendliche Subkultur bezeichnete Bewegung verlor ihren weitgehend eigenständigen Charakter in den späten 60er Jahren, als Stilelemente des "Gammelns" wie Müßiggang und Schnorren, das Tragen langer Haare, Drogenkonsum und die Vorliebe für Rockmusik allmählich Eingang in die Massenkultur der damaligen Jugend fanden.
    In der Presse tauchte der Begriff "Gammeln" erstmals 1963 und ab 1965 verstärkt als Bezeichnung für die oben beschriebenen Jugendlichen auf. Charakterisiert wurde damit eine bewußte Ablehnung bürgerlicher Werte und Normen, z.B. durch Konsumverweigerung, und auch die Ablehnung von geregelter Erwerbstätigkeit oder eines im bürgerlichen Sinne als gepflegt wirkenden Erscheinungsbildes. Wichtigstes äußeres Erscheinungsbild waren die langen Haare, die in den 60er Jahren einen starken Gegensatz zu der damals üblichen Kurzhaarmode bildete. Gammler waren insbesondere in den Zentren von Großstädten anzutreffen, da sie in der Provinz oft kaum oder gar nicht geduldet wurden, während sich in den Citylagen oft bestimmte Örtlichkeiten zu Treffpunkten dieser Subkultur entwickelten.
    Zwei Drittel der Gammler galten als Schüler oder Studenten, wobei das typische Alter zwischen sechzehn und einundzwanzig Jahren lag, lediglich ca. 5 Prozent waren fünfundzwanzig Jahre oder älter. Insofern können die Gammler der 60er Jahre durchaus weitgehend als Ausdruck eines spezifischen Verhaltens inmitten der Pubertät betrachtet werden. Junge Männer waren in dieser Subkultur deutlich vorherrschend, und 82 Prozent sollten laut einer Befragung aus der Mittelschicht und bürgerlich geprägten Elternhäusern stammen. Insofern war die Gammlerbewegung keineswegs Ausdruck einer spezifischen Arbeitersubkultur, wie heute gelegentlich behauptet wird.
    Die Zusammensetzung dieser Subkultur ergab große Unterschiede in der Motivationslage. Es existierten sowohl reine "Stadtgammler" als auch "Freizeit- und Wochenendgammler", die nur nach Feierabend oder am Wochenende die Szenetreffpunkte aufsuchten und sich rein äußerlich der Gruppe anpaßten, während sie tagsüber ihrer Arbeit oder Ausbildung nachgingen. Andere stiegen während des Urlaubs oder in den Ferien für einige Sommermonate aus und schlossen sich freiwillig dieser Szene an. Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Gammler waren "Dauergammler", die alle wesentlichen Brücken zur bürgerlichen Gesellschaft abgebrochen hatten. Zeitgenössische Polizeiberichte ordnete die letzte Gruppe, die häufiger durch kleinere Straftaten auffiel und sich weniger als protestierende Subkultur betrachtete, häufig der Stadtstreicher- oder Asozialenszene zu.
    Der Lebensunterhalt des Gammlers wurde nach damals gängiger Meinung oft nur durch Gelegenheitsarbeiten und Straßenmusik bestritten. Generell standen die Gammler den gesellschaftlichen Werten und Normen zwar durchaus kritisch gegenüber, lehnten aber gleichzeitig entsprechende Kundgebungen und Interventionen ab. Dagegen bildeten sich zunächst in den Niederlanden ab 1965 die "Provos" heraus, die erste politische Aktionen mit anarchistischem Hintergrund wie z.B. Hausbesetzungen durchführten.
    Nach Walter Hollstein handelte es bei dieser Gruppe vorwiegend um Jugendliche, die sich "der Konformität des Lebens bewußt entzögen". Die West- Berliner Innenbehörde stellte damals fest, daß die so benannten Jugendlichen meist einen festen Wohnsitz hätten und auch einer geregelten Arbeit nachgingen. Ihr Verhalten sei nicht darauf zurückzuführen, daß sie arbeitsscheu seien (was eine kleine Minderheit von ihnen dennoch sicherlich war), vielmehr sei ihr Freizeitverhalten Ausdruck eines Protests gegen gesellschaftliche Normen. West- Berlin galt in diesem Zeitrahmen als "Gammlerhochburg", da dort lebende junge Männer nicht zum Wehrdienst eingezogen wurden, so daß bereits damals durchaus auch Umzüge nach West- Berlin stattgefunden haben, um dem Dienst an der Waffe zu entgehen.
    In einer Expertise stellte das niedersächsische Innenministerium aufgrund ihrer Herkunft durchaus eine günstige Sozialprognose, bezeichnete sie als "oft geistig aufgeschlossen, oft berufstätig und nur in der Freizeit gammelnd".
    In der Bundesrepublik wurden Gammler Mitte der 60er Jahre, ähnlich wie die "Halbstarken" der 50er Jahre, zu einem vielbeachteten Objekt der Medienberichterstattung, obwohl man die Anhänger dieser Subkultur lediglich auf einige Tausend in Europa und einige Hundert (!) in Westdeutschland schätzte. So veröffentlichte das Nachrichtenmagazin "Spiegel" im Jahre 1966 seine Titelstory "Gammler in Deutschland". In der Öffentlichkeit wurde diese Subkultur weitestgehend abgelehnt und gipfelte in Forderungen, den Gammlern die Haare zu scheren und sie zur Zwangsarbeit zu verpflichten. Ebenso führte an vielen Schulen die lange Haartracht einiger Jugendlicher zu Konflikten mit Lehrern und der Schulleitung. In der Bundeswehr kam es seit 1967 zu ersten Verweigerungen, sich die Haare schneiden zu lassen. Erst der "Haarnetz- Erlaß" führte Anfang der 70er Jahre zu einer gewissen Entspannung.
    Peter Fleischmann drehte im Jahre 1967 den damals vielbeachteten Dokumentarfilm "Herbst der Gammler" über die Münchener Gammlerszene und die feindseligen Reaktionen zahlreicher Passanten, der an dieser Stelle abgerufen werden kann.

    www.youtube.com/watch?v=QubRVaNJTLs
    www.youtube.com/watch?v=8lXUc_W_i68
    www.youtube.com/watch?v=HkBsaVsz6H4
    www.youtube.com/watch?v=deTfC8spgBs

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    Sonntag, 18. Juni 2023, 19:51

    Aussteiger

    Ich weiss nicht, ob man Aussteiger auch als Gammler sehen koennte?
    Als ich 1994 in Nova Scotia Urlaub machte und in die Buchhandlung eines vor 30+ Jahren ausgewanderten Buchhaendlers ging, unterhielten wir uns u. a. ueber die vielen winzigen Inselchen in der Mahone Bay. Und er meinte, die seien fest in deutscher Hand, das seien alles deutsche Aussteiger.
    Leider konnte ich in Google nichts ueber sie finden.
    Es gibt einen Film mit Wolfgang Stump, der auf einer dieser Inseln gedreht wurde. Er heisst "Harry's Insel".
    https://www.youtube.com/watch?v=4PUtJb_nRAg&t=40s

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    Montag, 19. Juni 2023, 15:46

    Aussteiger in Canada

    Die von Dir genannten "Inselbewohner" sind in der Regel durchweg betuchte "Emigranten", die zu wissen meinen, wohin in Deutschland mittel- bis langfristig der Hase läuft. Eine Eva Herman gehört mittlerweile auch dazu. Mit "Gammlern" im weitesten Sinne haben die schon altersmäßig nichts zu tun, eher schon mit der Prepper- Community.

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    Montag, 19. Juni 2023, 16:50

    Beatfans, Langhaarige und Gammler - Die alternative Jugendszene in der DDR der 60er Jahre

    "Spitzbart und Brille, ist nicht unser Wille" sagten bei passender Gelegenheit meine Cousins in den späten 60ern zu mir, wenn es einmal um grundsätzliche Fragen über ihr Leben im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat ging. Gemeint war damit niemand anderes als der damalige Staatsratsvorsitzende der DDR, Genosse Walter Ulbricht. Noch auf dem 6. Parteitag der SED im Jahre 1963 hatte dieser jovial über die Jugendszene und deren Musik in der DDR geäußert: "Welchen Takt die Jugend wählt, ist ihr überlassen; Hauptsache, sie bleibt taktvoll !" Dieser Satz kennzeichnete zu dieser Zeit durchaus einen gewissen Umbruch in der staatlichen Jugendpolitik. So durfte der in den frühen 60er Jahren angesagte Modetanz "Twist" nun plötzlich auch in den Jugendclubs der FDJ getanzt werden. Im Jahr darauf erlag fast die ganze Welt dem "Beatles- Fieber", und sogar in der Deutschen Demokratischen Republik erschienen eine LP und zwei Singles von den Pilzköpfen, die sich schnell zu "Bückware" entwickelten, die nur mit guten Beziehungen oder gegen Valuta und andere Sachwerte zu haben war.
    Die Jugendzeitschrift "Neues Leben" schrieb 1964 allen Ernstes, daß die vier Arbeiterjungen aus Liverpool mit ihrer Musik gegen den Kapitalismus protestieren wollten, und somit paßten die "Beatles" fast perfekt in die ideologische Welt der SED- Funktionäre. Dagegen erspielten sich die "Rolling Stones" keinerlei Sympathien in den Funktionärsetagen und der Erwachsenenwelt, so daß die Einspielungen der als "rebellisch" geltenden Formation in der DDR unter der Hand äußerst gesucht waren und hoch gehandelt wurden.
    Auch das Deutschlandtreffen der FDJ von 1964 untermauerte die deutliche Wende in der Jugendpolitik. Pfingsten 1964 wurde in Berlin nicht nur die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands bejubelt und gegen den Imperialismus demonstriert, sondern es durfte auch getanzt, gelacht und geliebt werden. Den passenden Sound dazu lieferte das Jugendradio "DT 64", dessen Sonderstudio rund um die Uhr die passende Beatmusik zum Treffen lieferte. Darunter auch Titel, die damals selbst von manchen westlichen Sendern nur ungern über den Äther geschickt wurden. Dazu gab es unzensierte (!) Live- Interviews, eine ganze Reihe von flotten Sprüchen und gut gemachte Reportagen. Selbst in den Redaktionsstuben der Rundfunkanstalten SFB und RIAS in West- Berlin staunte man damals über die neue Konkurrenz aus der Ostberliner Nalepastraße, dem Sitz des DDR- Rundfunks, und dachte über die Einrichtung vergleichbarer Sendungen nach.
    In den Jugendclubhäusern der FDJ, die bisher vorwiegend die Arbeiterliedkultur und den Volkstanz pflegten, gründeten junge Leute nun Bands mit Elektrogitarren und Schlagzeug und eiferten ihren angelsächsischen Idolen nach. In Leipzig und Umgebung machten Gruppen wie "The Butlers" die Tanzschuppen unsicher, und in Berlin wurde die Sendereihe "Jazz und Lyrik" auf die Beine gestellt.
    Doch mit der neugewonnenen kulturellen Freiheit der Jugendlichen war es im Oktober 1965 bereits wieder vorbei. Denn Walter Ulbricht stand zunehmend in der Kritik der Hardliner im Politbüro, die einen Vorwand suchten, um die eingeleiteten liberalen Wirtschaftsreformen zu stoppen, und diesen in der Jugendpolitik fanden. Am 11. Oktober 1965 faßte das Politbüro dementsprechend einen Beschluß "Zu einigen Fragen der Jugendarbeit und dem Auftreten der Rowdygruppen". In Konsequenz wurde schlagartig die Beatmusik in allen DDR- Medien verboten und den Beatgruppen die Lizenzen entzogen, was für viele Jugendliche dieser Jahre naturgemäß einen schmerzhaften Einschnitt bedeutete. Anglifizierte Namen für neuaufgestellte Bands wurden fortan untersagt, stattdessen wurden für diese der Begriff "Combo" vorgeschrieben. Auch die Live- Veranstaltungen in den FDJ- Clubs wurden nun wieder vermehrt auf ihre ideologische Sattelfestigkeit überprüft. In Leipzig als dem damaligen Zentrum der Beatbewegung erhielten die "Butlers" und vier weitere Gruppen ein unbefristetes Auftrittsverbot. Kurz darauf tauchten Flugblätter auf, die zum Protestmarsch gegen das Beatverbot aufriefen. Erst durch die Warnungen der Schulleitungen, an entsprechenden Demos teilzunehmen, wurde der Ortstermin am Wilhelm Leuschner- Platz allgemein bekannt. Schon damals tauchten Gerüchte auf, daß die Demo der Beat- Fans von einigen Scharfmachern in der Partei provoziert worden sei, um Walter Ulbrichts Reformpolitik zu torpedieren. Am 31. Oktober 1965 versammelten sich einige tausend Jugendliche im Zentrum von Leipzig, gegen die umgehend mit Wasserwerfern, Hunden und Schlagstöcken vorgegangen wurde. Es erolgten 279 Festnahmen, 144 Personen wurden strafrechtlich verfolgt. Viele von ihnen wurde für einige Wochen "in die Produktion", konkret in den Braunkohletagebau, verbannt. Siehe hierzu auch den separaten Beitrag in diesem Forum: Die Leipziger Beatdemo von 1965.
    In der Presse begann nun eine Kampagne gegen Langhaarige, Beatfans, Gammler, aber auch gegen junge Christen und generell gegen politisch Andersdenkende. Darüber hinaus beendete das 11. Plenum des ZK noch 1965 jede weitere Hoffnung auf eine liberale Lultur- und Jugendpolitik. Selbst Walter Ulbricht griff einen Text der "Beatles" auf und fragte: "Ist es denn wirklich so, daß wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen ? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluß machen. " Von nun an gab die Partei wieder ausschließlich den Takt an.
    Im Jahr darauf führte das Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung im Auftrag der SED eine Studie durch, um die Haltung von Beat- Fans, Langhaarigen und Gammlern zu untersuchen. Die Studie ergab nicht, wie zuvor behauptet wurde, eine verringerte Intelligenz dieser jungen Menschen, sondern lediglich eine bestimmte Affinität dieser Gruppen zu westlicher Musik. Dennoch wurden an verschiedenen Orten der DDR von FDJ und Volkspolizei zwangsweise Haarschneideaktionen durchgeführt oder Jugendliche von der örtlichen Polizei unter Zwang zum Friseur gebracht. Mit dem verstärkten Übergreifen der westlichen Pop- und Musikkultur auch auf anderen Ostblockstaaten trat mit den beginnenden 70er Jahren dann eine gewisse Entspannung ein, so daß Staat und Partei von allzu autoritärem Vorgehen wie dem erzwungenen Haareschneiden Abstand nahmen. Zu dieser Zeit machte in der DDR die sogenannte "Blueserszene" von sich reden, die sich als Gegenströmung zur offiziellen DDR- Jugendkultur verstand und einige Ideale aus der westlichen Hippie- Bewegung wie persönliche Freiheit, Authentizität und Nonkonformismus übernahm. Viele von ihnen engagierten sich in der Friedensbewegung der DDR.