Vor wenigen Jahren befand ich mich zu Besuch bei einem Geschäftsfreund in Solingen- Ohligs. Da mir am Wochenende noch etwas Zeit verblieb, nutzte ich die Gelegenheit zu einem Besuch meiner alten Heimatstadt Hilden, der ich schon vor einigen Jahrzehnten "Tschö !" sagen mußte.
Vieles hatte sich seit 1973 verändert, der Innenstadtbereich rund um die ehemalige Mittelstraße war zur Fußgängerzone geworden und wirkte dadurch moderner, aber auch zugebauter. Der von uns früher wegen der Kirmes vielbesuchte, damals noch unbefestigte Lindenplatz war nun zur asphaltierten Parkfläche für die Pendler in die nahen Großstädte, vor allem nach Düsseldorf, geworden. Schließlich führte mich mein Weg über die Parkanlage Holterhöfchen zu meiner alten, ehemaligen "Realschule für Jungen", in der ich zwischen 1967 bis 1973 büffeln durfte.
Auch hier wirkte vieles neu oder verändert. Die damals noch recht frische Parkanlage (die Schule wurde 1963 eröffnet) rund um das Gebäude hatte sich zu einem stattlichen Altbestand entwickelt, die Fassadenverkleidungen wurden wohl irgendwann erneuert oder modernisiert.
Der Wiedererkennungswert hielt sich damit für mich in Grenzen, bis ich wie zufällig vor der Zufahrt in den alten Fahrradkeller des Gebäudes stand. Ich war plötzlich wie vom Schlag getroffen, denn hier hatte sich in den letzten dreißig Jahren so gut wie nichts verändert ! Langsam stieg ich die Stufen zum Keller hinab, und dutzende von Erinnerungsfragmenten bemächtigten sich meiner...
1967 war für uns zehnjährige Schüler ein Jahr voller Veränderungen. An ein locker- leichtes Lernpensum in der Grundschule sowie an Kurzschuljahre gewöhnt, war der Eintritt in die Fabry- Realschule und die Umgewöhnung an völlig andere schulische Verhältnisse ein ziemlicher "Kulturschock" für einen Jungpennäler.
Die Zahl der Unterrichtsfächer und der Umfang des zu lernenden Stoffes nahmen schlagartig zu, so daß wir oft bis in die frühen Abendstunden an unseren Hausaufgaben saßen. An unser gewohntes Nachmittagsspielen auf der Straße, dem Grundstück oder im nahen Ohligser Wald war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken.
Einige meiner Klassenkameraden, die ich seit der Grundschulzeit kannte, konnten oder wollten sich diesem Druck nicht beugen und verabschiedeten sich nach ein bis zwei Jahren zurück in die Hauptschulen, in denen es wesentlich "streßfreier" zuging.
Wie empört war ich, als mir meine Kumpels in den frühen Siebzigern weiszumachen versuchten, sie könnten durch die Absolvierung der zehnten Hauptschulklasse gleichfalls die Mittlere Reife erlangen. So eine Ungerechtigkeit, sollte meine ganze Büffelei für die Katz gewesen sein ?
Unglaublich, aber so war es. Unsere Bildungsoberen wollten eine vertikale Durchlässigkeit im Rahmen der Chancengleichheit und erreichten letztendlich nur eine Entwertung aller Schulformen. So weit dachten wir damals aber noch nicht.
Die Mehrzahl der Schüler, so auch ich, fuhr bei jedem Wetter mit dem Fahrrad zur Schule. Da die Zahl der Stellplätze im Fahrradkeller begrenzt war und die Drahtesel oberirdisch nicht abgestellt werden durften, lösten unsere Lehrer das Knappheitsproblem durch die Anlage von "Radien" auf einem Stadtplan. Schüler, die die inneren Radien bewohnten, also keinen allzu weiten Schulweg hatten, hatten dann die entsprechend schlechteren Chancen auf einen Stellplatz und mußten notgedrungen zu Fuß in die Einrichtung kommen.
Unsere Lehrer in dieser Zeit waren noch überwiegend "Autoritäten" und wurden von uns dementsprechend respektiert. Zumindest in den ersten beiden Jahren mußten wir nach der Pause in Zweierreihen vor der Aufgangstreppe Aufstellung nehmen und gingen dann "gesittet" in unsere Klassenräume. Bei Eintreten des Lehrkörpers hatten wir aufzustehen und durften uns erst nach Aufforderung wieder setzen.
Gefürchtet war bei einigen Paukern das "Abhören" des Stoffes der vergangenen Lektion, da dieses benotet wurde. Clevere Mitschüler konnten sich dagegen ungefähr ausrechnen, wann sie wieder an der Reihe waren, da insbesondere ältere Lehrkräfte oft schematisch nach dem Alphabet im Klassenbuch "abhörten". So konnten wir uns oft ökonomischer auf bestimmte Stunden vorbereiten.
Der Unterrichtsablauf war von Lehrer zu Lehrer sehr unterschiedlich. Einige begnügten sich damit, den Lehrstoff von wechselnden Schülern aus dem Buch vorlesen zu lassen (Hans Stein), andere gestalteten durchaus spannende Stunden, indem sie auch einmal vom vorgegebenen Lehrplan abwichen (Wilfried Carstens, H.- W. Stodt). Die meisten unserer Steißtrommler dozierten jedoch und hinderten durch mehr oder weniger häufiges Rückfragen uns Schüler daran, einfach mal "wegzudösen".
Sanktionen bei Fehlverhalten gab es relativ wenige, da die "Spielregeln" für uns damals ziemlich klar waren und Ausfälle nicht geduldet wurden. Die Spannbreite reichte dabei von einer einfachen Strafarbeit über den berühmten "Doppelklatscher" auf die Wangen (Georg Schmelz) bis zu handfesten Stockhieben aufs Hinterteil (Hans Stein).
Der Umgangston zwischen Lehrern und Schülern war aus heutiger Sicht relativ rauh. Wir wurden selbstredend geduzt und zumindest von den Pädagogen der alten Garde gleichzeitig ausschließlich mit unseren Nachnahmen angesprochen, z.B.: "Müller, komme mal nach vorne und erzähle mir etwas über...".
Ein Dauerproblem war die Überfülle an Hausaufgaben, die wir mitbekamen, so daß wir einzelne Lehrer gelegentlich um einen kleinen "Erlaß" gebeten haben, der uns von einigen, nicht von allen, dann gnädig gewährt wurde. Gewöhnt wurden wir so an selbständiges geistiges Arbeiten auf einem, gemessen an unserem Alter, relativ hohem Niveau. Einige ehemalige Mitschüler behaupten heute, erst auf dieser Schule das Lernen gelernt zu haben, was ich für mich in vollem Umfang bestätigen kann.
Für eine reine Jungensschule waren wir Schüler der ausgehenden 60er Jahre erstaunlich "gesittet", was wohl auf die damals noch rigiden Sanktionsmechanismen zurückzuführen war. Rangeleien, "Kräftemessen", und die üblichen Schülerstreiche gab es auch bei uns, sie überschritten aber nie eine gewisse Schmerzgrenze.
Kein Wunder, wenn einzelne Lehrer (Julius Boden) noch mit Trillerpfeife auf dem Pausenhof flanierten und über die Stränge schlagende Missetäter (z.B. anläßlich einer Schneeballschlacht) unverzüglich zum Direx (G. Eckerth) brachten.
Auch gelegentlich von uns verübte "Anschläge" mit Knallfröschen auf WC- Bereiche und Lehrerzimmer in unserer späten Fabryzeit änderten an unserer friedlichen Grundhaltung wenig. Selbst das Verbrennen von Schulbüchern (1973) zum Abschluß unserer Schulkarriere wurde vom Lehrkörper sofort unterbunden.
Völlig erstaunt haben wir dann auch reagiert, als einer unserer stattlichsten Pädagogen (H.-W. Stodt) von einem Schüler niedergeschlagen wurde, als er diesem das Rauchen auf dem Schulhof verbieten wollte. Fast schon mit Erleichterung nahmen wir dann zur Kenntnis, daß der Übeltäter "nur" ein Schüler der benachbarten Hauptschule war. So etwas taten Fabryaner nicht !
Überhaupt war das Zigaretten- und, etwas später, das Drogenproblem in unserer Zeit noch kaum Thema an unserer Schule. Immerhin wurde ein Klassenkamerad um 1970 nach langem Hin und Her von der Schule relegiert, weil er in seiner Freizeit, animiert durch seinen älteren Bruder, Haschisch konsumiert hatte. So eng wurden damals noch die Spielregeln ausgelegt !
Als im Nachhinein nachteilig empfanden wir den damals noch bestehenden Lehrermangel, der dazu führte, daß "wichtige" Fächer wie Physik und Chemie jahrelang nicht unterrichtet wurden. Nun ja, wir gehörten nun mal zur geburtenstarken Babyboomer- Generation der fünfziger Jahre, während viele der uns potentiell unterrichtenden Lehrer kriegsbedingt nicht mehr unter uns weilten.
Die Teilnahme am Religionsunterricht wurde in den späten Sechzigern dagegen zu einer freiwilligen Angelegenheit, vor der sich einige gern gedrückt hätten. Leider war unser Religions- gleichzeitig unser Klassenlehrer (H.-J. Schlechtriem) , so daß es nicht als besonders opportun erschien, dies zu tun.
Alles in allem kamen bei der Begehung des alten Fahrradkellers in mir Erinnerungen an eine Zeit hoch, die nicht um vieles besser war als die heutige, in der wir uns durch zahlreiche "Regeln" aber besser durch den Dschungel des Zeitgeistes orientieren konnten als die Generation meiner Kinder.