Mein Vater war Jahrgang 1931, meine Mutter ist Jahrgang 1929 (Du sprachst kuerzlich in einem anderen thread an, wie schwer es fuer die jungen Frauen nach dem WW II war,einen Partner zu finden - es herrschte naemlich grosser Maennermangel).
Meinen Eltern ging es erst ab 1960 (Umzug von Muenchen nach Treuchtlingen) wirtschaftlich etwas besser, an Urlaub war hoechstens in Oesterreich oder in der Schweiz zu denken. Dort uebernachteten wir auf einem Bauernhof.
Ich habe aehnliche Eindruecke aus meiner Kindheit.
1964 besuchten wir meinen Vater im Krankenhaus, der hin und wieder als Assistenzarzt Wochenenddienst hatte.
Vor lauter Langeweile sass ich dann oft am Fenster, waehrend sich meine Eltern unterhielten, und schaute hinaus, sah unten auf dem Buergersteig aufgedonnerte junge Frauen mit toupierten blonden Haaren (damals noch kurz) in Maenteln vorbei gehen.
Wenig Autos, kaum Motorraeder, viele Menschen gingen zu Fuss oder fuhren Fahrrad (meine Mutter kaufte mit dem Fahrrad ein und vergass staendig Getraenke und Toilettenpapier, was vor allem am Wochenende schlimm war, wenn kein Laden geoeffnet hatte).
Ich erinnere mich an viele aeltere Maenner, die ohne Arm oder ohne Bein aus dem Krieg zurueckgekommen waren (Prothesen gab es damals offenbar noch nicht). Der Aermel oder das Hosenbein war dann immer zusammengesteckt.
Fast alle Maenner trugen einen Hut (mein Vater hasste Huete, ich sah ihn nie mit Hut).
Stimmt, die Strassen waren bis etwa 17 Uhr fast leer, wir konnten ungefaehrdet auf der Strasse spielen oder im Wald - es war eine Kindheit wie von Enid Blyton in den Fuenf Freunde Buechern geschildert (nur ohne Abenteuer

).
Mitte der 60er Jahre war es dann allerdings mit der sorglosen Kindheit vorbei.
Ich kam im September 1966 auf's Gymnasium, hatte schon seit der Volksschule Probleme im Rechnen, nun wurde es richtig schwer fuer mich. Zweimal in der Woche musste ich zum Mathe-Nachhilfeunterricht, dann hatte ich Klavierunterricht, Konfirmandenunterricht (zum Glueck keinen Ballettunterricht mehr) und Sonntagsschule - das total verplante Kind.
Stundenlange Hausaufgaben an den uebrigen Wochentagen.
Ich moechte weiss Gott nicht nochmal in die Schule gehen!!!
Nein, hipster gab es nicht, aber Ende der 60er kamen zu den Bettlern, die man bereits vor Mitte der 60er Jahre in der Innenstadt sah, die Hippies hinzu.
Und Scherenschleifer gingen von Haus zu Haus, boten ihre Dienste an.
Es gab Maenner, die eine Drehorgel und einen kleinen Affen hatten. Es gab Akordeonspieler.
Fernsehen durfte ich nur vor 20 Uhr, und nur eine Stunde pro Wochentag (am Wochenende etwas mehr), dann wurde die Tagesschau angesehen. Die Spielfilme im ZDF, die nach "Heute" begannen, konnte ich deshalb nie zu Ende ansehen.
Um 21 Uhr musste ich ins Bett, denn wir wohnten soweit von meiner Schule entfernt, dass ich den einzigen Bus (es fuhr nur einer pro Stunde nach Braunschweig rein - von wegen oeffentliche Verkehrsmittel!) um 6 Uhr frueh erwischen musste, also hiess das fuer mich um 5 Uhr aufstehen.
Und dabei blieb es ein Leben lang, ich hatte immer lange Schulwege bzw lange commutes zu meinen Arbeitsplaetzen bis auf die 5 Jahre vor meiner Auswanderung, da lebte ich nur 15 Minuten vom Kinoarchiv in HH-Eppendorf, und konnte zu Fuss gehen.
Geschenke ausserhalb des Geburtstages oder zu Weihnachten gab es fast nie, hoechstens, wenn die Grosstante oder die Grosseltern aus der DDR zu Besuch kamen bzw meine Muenchner Oma.
Damals in den 60er Jahren musste man zaehneknirschend praktische Geschenke zu Weihnachten und zum Geburtstag hinnehmen wie Pyjamas und Unterwaesche. Damit koennen Eltern ihren Kindern heutzutage nicht mehr kommen.
Natuerlich bekam ich auch einige Buecher zu Weihnachten, nur in der Regel (fast) nicht das, was auf meinem Wunschzettel aufgelistet war.
Es waren aeusserst bescheidene Jahre, und ich bin heute noch damit beschaeftigt, mir all die Kinderbuecher zuzulegen, die ich damals entweder nicht bekam bzw nur aus der Bibliothek kannte.
Das Fernsehprogramm war in den 60er jahren wesentlich spannender als heute, die Popmusik von damals gefaellt mir viel besser als Techno und Rap.
Selbst mit der heutigen Literatur kann ich nicht mehr viel anfangen, die kurzen Romankapitel gehen mir auf die Nerven - immer, wenn es spannend wird, wird die Geschichte unterbrochen und es wird auf einen anderen Erzaehlstrang umgeschwenkt.
Der oben angesprochene Zeitrahmen mit der u.a. allmählichen Zunahme des persönlichen Wohlstands sowie den sukzessiven Veränderungen von Werten und Normen betraf in erster Linie unsere Elterngeneration und zu einem kleineren Teil auch noch die unserer Großeltern. Ich habe meinen alten Herrn (Jahrgang 1932) vor Jahren einmal auf den Beginn der bundesdeutschen Hochkonjunktur befragt und diesen aus meiner Sicht auf die Jahre um 1954/55 festgelegt. Er dagegen wußte als Zeitzeuge recht genau , ohne sich damit näher beschäftigt zu haben, daß die Zeit der weitgehenden Vollbeschäftigung erst ab 1959 begann.
Ich als Kind dieser Zeit verbinde die 60er Jahre vor allem mit folgenden Eindrücken:
- tagsüber meist autolose, weitgehend menschenleere Straßen in unserer Wohngegend, ein Ausdruck der damaligen Vollbeschäftigung. Zahlreiche "Hipster", die heute tagsüber die Straßen bevölkern, gab es zu dieser Zeit zumindest in meiner Gegend nicht.
- Kinder, die nicht zuhause "abhingen", sondern wie wir, auf dem Hof, im Garten, auf der Straße oder im Wald spielten. Auch kleine Radtouren waren bei uns nicht unüblich. Das Fernsehen gab es damals natürlich schon, wurde aber (zumindest bei uns) meist erst in den frühen Abendstunden in Betrieb genommen.
- Die Freude über "kleine Geschenke", sei es ein Comic- Heft, eine Wundertüte oder ein paar Süßigkeiten vom Büdchen. Dinge, über die die meisten Kiddies heute nur müde den Kopf schütteln würden.
Die 70er/80er Jahre waren für mich bereits wieder ein anderes Thema. Die Zeit der unbeschwerten Kindheit war vorbei. Als geburtenstarker Jahrgang 1957 war ich einer von vielen, der sich seinen Platz in der gymnasialen Oberstufe, in einem Ausbildungsbetrieb und später einen Studienplatz recht mühsam erkämpfen mußte. Dazu kamen gravierende Veränderungen im privaten Umfeld, die mich insbesondere die "wilden 70er Jahre" in der Rückschau mit recht gemischten Gefühlen betrachten lassen. Auch die Suche nach einem Arbeitsplatz gestaltete sich in den 80ern, dem "Jahrzehnt der Zweidrittelgesellschaft", alles andere als einfach. In dieser Zeit kamen mir jedoch einige glückliche Zufälle zu Hilfe. Aber das wäre bereits wieder ein anderes Kapitel

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