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    Donnerstag, 24. September 2020, 10:59

    1965: Die BRAVO, ein Konzert und der Beginn des Revoluzzertums in Berlin

    Im Jahre 1965 wuchs ich im Rheinland auf, besuchte als damals achtjähriger Pennäler die Grundschule Zur Verlach und erkrankte im Frühjahr an Masern. In den Sommerferien fuhren wir in die "Zone", wie wir den Arbeiter- und Bauernstaat DDR nannten, um in der Altmark die Verwandten meiner Mutter zu besuchen.
    Ungefähr zur gleichen Zeit ereignete sich im vom beschaulichen Stendal nicht allzu weit entfernten West- Berlin Unglaubliches: eine "Revolte" war ausgebrochen ! Denn in den Abendstunden des 15. September etablierte sich dort nichts Geringeres als der Beginn der "wilden Sechziger", als sich über zwanzigtausend Fans der Rolling Stones in der ausverkauften Freilichtarena "Waldbühne" unweit des Olympiastadions einfanden. Die etwa sieben Hektar große Anlage wurde im Rahmen der Olympischen Spiele 1936 errichtet und hatte die Kriegszerstörungen einigermaßen unbeschadet überstanden.
    Organisiert hatte die Tournee der Stones durch Westdeutschland die damals auf dem ersten Gipfel ihrer Popularität stehende Jugendzeitschrift BRAVO, die die Veranstaltung als "einmaliges Sensationsgastspiel mit der härtesten Band der Welt" bewarb. Bereits beim vorausgegangenen Konzert in Hamburg hatte es über dreißig Verletzte und siebenundvierzig Festnahmen gegeben. West- Berlin war die letzte Station der Stones- Tournee.
    Die "Unruhen" begannen bereits vor dem Konzertbeginn. Der damalige Lehrling R. erinnert sich: " Wir hatten die Kohle für den Eintritt nicht und beschlossen, umsonst reinzugehen. In Tegel versammelten wir uns... Es waren etwa zweihundert bis zweihundertfünfzig Leute, die dann losmarschierten. Unter ihnen waren auch die späteren Aktivisten des 2. Juni stark vertreten. Als wir an der Waldbühne aus der S- Bahn kamen, war da gleich die erste Bullensperre. Eine ganz lockere, die wir zur Seite drückten."
    Kurz vor der Waldbühne wartete eine zweite Polizeikette mit einer berittenen Staffel. R. erinnert sich: " Das war schon ein bißchen komplizierter. Wir sind auch da durchgebrochen. Dann gab es nur noch eine ganz leichte Sperre direkt an der Waldbühne. Und so waren wir schließlich mit über zweihundert Leuten umsonst drinnen und standen ganz vorne."
    Ganz so locker und ohne Blessuren gestaltete sich der Durchbruch der Jugendlichen, wie R. ihn schildert, jedoch nicht. "Polizeihunde bissen sich in Textilien und Fleisch durchbrechender Beatjünger fest", berichtete am Tag darauf ein Reporter des Berliner Tagesspiegels. Auch der eigentliche Auftritt der Rolling Stones geriet zum Fiasko. Bereits bei ihrer ersten Nummer "Everybody Needs Somebody To Love" stürmten Hunderte Fans auf die Bühne. Die wenigen Ordner traten daraufhin den geordneten Rückzug an, während Polizei aufmarschierte und der Band zumindest kurzzeitig wieder Luft verschaffte. Danach spielte die Formation ihren damals brandaktuellen Hit: " I Can´t Get No Satisfaction". Doch bereits nach dem dritten Titel hörte sie wieder auf. Denn die laut BRAVO- Werbung vermeintlich "härteste Band der Welt" fürchtete angesichts des Chaos auf und vor der Bühne nachhaltig um ihre Sicherheit. Das Publikum war maßlos enttäuscht und verlangte zumindest nach einer Zugabe. Hingegen ließen sich die Stones nicht mehr blicken, sondern umgehend in das Schloßhotel Gerhus chauffieren. Die zahllosen Jugendlichen fühlten sich nicht ganz zu Unrecht um ihren Eintritt geprellt und waren dementsprechend sauer. "Wir begannen, die Bänke zu zerstören", so Teilnehmer H. "Die Dinger waren aus Eternit und knackten sofort durch, als wir darauf herumsprangen. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis die Bullen eingriffen, denn die waren nicht auf Krawall vorbereitet".
    Schließlich schalteten die Veranstalter die Stadionbeleuchtung aus, und das Chaos war komplett. Immer mehr empörte Fans begannen mit der Zerstörung von Bänken. Schließlich ging das Licht wieder an, und die Polizei begann, Wasserwerfer einzusetzen. "Bis dahin war alles noch halbwegs friedlich verlaufen", so der damalige Lehrling R. "Doch dann begannen die Bullen, auf eine Gruppe von vierzig bis fünfzig Mädels einzudreschen, die sich an der Bühne versteckt hatten. Das war dann das Signal für alle: jetzt nochmal zurück ! Und dabei ging die Waldbühne dann richtig zu Bruch ! Wir sind dann abgehauen, und in die S- Bahn rein. Die gehörte dem Osten (der damaligen DDR, d. Verf.), und der war bei uns nicht so beliebt. Also haben wir die Scheiben eingeschmissen. In Halensee warteten dann die Bullen auf uns. Wir sind aus dem Zug raus und haben es die Böschung raufgeschafft. Da waren wir in Sicherheit".
    Im West- Berliner Polizeibericht hieß es lapidar: 87 Verletzte, darunter 26 der eingesetzten 367 Polizisten. 17 (!) demolierte S- Bahn Züge, von denen vier aus dem Verkehr gezogen werden mußten. Die GdP (Gewerkschaft der Polizei) forderte daraufhin, derartige "voraussehbare Krawallveranstaltungen" in Berlin künftig zu untersagen. Auch die lokale und überregionale Presse äußerte sich zeitentsprechend sehr eindeutig zu den Berliner Vorfällen.
    Die Berliner Waldbühne wurde erst sieben Jahre nach dem Konzert der Rolling Stones wieder instandgesetzt.

    www.youtube.com/watch?v=laeVPhbRERw
    www.youtube.com/watch?v=GOD6A6BNt2k
    www.youtube.com/watch?v=-XM-tUB-Y58
    www.youtube.com/watch?v=b4t-njr_Cjk